06.05.2022 - Ivan der Weise und sein Haltegriff
... Er war viel mehr als ein gewiefter Stratege, Fußballphilosoph und Intellektueller, er prägte Spieler und Fans nicht nur durch enorme Fachkompetenz und eine Spielanlage, die ihrer Zeit voraus war, sondern noch mehr durch seine menschliche Größe. Man hörte respektvoll, fast andächtig auf seine meistens recht leise Stimme. Auch in Zeiten größter sportlicher Höhenflüge blieb er bescheiden und seine Einschätzung nüchtern. Oft stand er als einziger auf der Euphorie-Bremse und war bestrebt, den Verein am Boden zu halten. Nach einem Champions-League-Spiel gegen Real Madrid wurde Osim nach dem Unterschied zwischen solchen Weltklasseteams und seinem SK Sturm gefragt. Seine trockene Analyse: „Dort spielen elf Spieler, bei uns vielleicht sechs oder sieben.“
Das Markenzeichen von Ivica Osim war der Haltegriff, den er an seiner Trainerbank montiert hatte. Osim war seiner Mannschaft stets ein starker Rückhalt, ein in sich ruhender Fels in der Brandung hitziger Fußballmatches. Doch woran konnte er sich im Leben festhalten? Die Gnade des Glaubens an Gott war Osim nicht geschenkt und sein Glaube an den Menschen erfuhr durch den Bürgerkrieg, in dem seine geliebte Heimatstadt Sarajewo in Schutt und Asche gelegt wurde, eine tiefe Erschütterung. Der feinsinnige Humanist, zu diesem Zeitpunkt letzter jugoslawischer Teamchef, hat angesichts dieser Katastrophe sein Lachen verloren und war von da an eine gebrochene Seele. Sollte Osim nun – was ich hoffe – bei einem liebenden Gott angekommen sein, dann wird Gott ihm gegenüber wohl einen großen Erklärungsbedarf haben.
Unser Andenken an diesen Weisen des Fußballs und weit darüber hinaus soll daher – gerade in einer Zeit, da sich die Geschichte nur wenige hundert Kilometer entfernt tragisch zu wiederholen scheint – eng verbunden sein mit einem unermüdlichen Ringen um Frieden, Menschlichkeit und Völkerverständigung. Auch dabei ist keine Halbherzigkeit zulässig, es genügt nicht, wenn sich sechs oder sieben darum bemühen, es braucht den unbedingten Einsatz aller elf, also jedes und jeder einzelnen, damit es Früchte tragen kann.
Alfred Jokesch, Sportseelsorger DSG Steiermark
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