Das Herzensprojekt
Aber der Begriff bringt auch auf den Punkt, dass sich mit etwas Abstand zum Spitzensport Wertigkeiten verschoben und Blickwinkel verändert haben. Was kommt, ist als Draufgabe zu verstehen – ohne den Druck, etwas erreichen oder jemandem etwas beweisen zu müssen.
Heuer will es Marcel Hirscher noch einmal wissen. Der Ausnahmekönner kehrt nach fünf Jahren Unterbrechung in den Schi-Weltcup zurück und rückt sicherheitshalber gleich voreilige Erwartungen zurecht: „Jetzt zählt für mich viel mehr, als zwischen Rot und Blau schnell zu sein.“ Während früher alles ausschließlich auf die optimale Rennperformance hingetrimmt gewesen sei, stünden bezüglich seiner körperlichen Verfassung heute viel eher die Allgemeingesundheit und -fitness im Vordergrund. Hirscher nennt es „Herzensprojekt“, bei dem es ihm um den Spaß und das Erleben gehe, nicht um Hundertstelsekunden. So, wie wir ihn kennen, ist es freilich schwer vorstellbar, dass er großen Spaß empfinden würde, sollte er mit deutlichem Abstand hinterherfahren.
Der Perfektionist Hirscher erklärt, dass zum Zeitpunkt seines Rücktritts nicht alles zu seiner ganzen Zufriedenheit vollendet worden sei. Er hat also mit seiner so einzigartigen und erfolgreichen Karriere – zumindest in emotionaler Hinsicht – noch eine Rechnung offen. Was ihm fehlt, ist nicht das perfekte Rennen, sondern das Erlebnis, ein Rennen in dem Bewusstsein zu bestreiten, dass es das letzte ist. Vielleicht ist es aber auch die Erfahrung, dass Perfektion nichts ist, was wir aus eigener Kraft erreichen können. Das Leben bleibt immer unter dem Vorbehalt, dass die Vollendung noch aussteht. Und sie ist letztlich ein unverdientes Geschenk, eine Gnade, ein Wunder. Das große Herzensprojekt, das uns allen aufgegeben ist, wäre demnach, diese Unverfügbarkeit annehmen zu lernen. Zu einem geglückten – nicht perfekten – Leben gehört vielleicht gerade die Haltung, dass ich jede Handlung so vollziehe, als wäre es zum letzten Mal.
Alfred Jokesch, Sportseelsorger DSG Steiermark
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